Die Innenstädte stehen am Wendepunkt: Statt Konsumstätte und Leerstand braucht es Orte für Begegnung, Kultur und Vielfalt. Celle wagt mit einem Ideenwettbewerb den Aufbruch in eine neue urbane Zukunft.

Innovative Entwürfe des Ideenwettbewerbs in Celle zeigen, wie leerstehende Kaufhäuser zu neuen Orten für Wohnen, Arbeiten und Kultur werden können. / © Foto: wggw.info/medien
© Fotos: wggw.info/medien
Der zunehmende Onlinehandel sowie demografische und strukturelle Veränderungen haben die Besucherzahlen in deutschen Innenstädten deutlich sinken lassen. Die Corona-Pandemie beschleunigte diese Entwicklung zusätzlich. In vielen Städten stehen Kaufhäuser und Traditionsgeschäfte leer. Kommunen stehen vor der Herausforderung, ihre Zentren wieder attraktiv zu gestalten. Städte wie Celle, Frankfurt oder Berlin erarbeiten daher innovative Konzepte, um urbane Räume nachhaltig zu revitalisieren.
Dass Städte rasch handeln müssen, zeigen aktuelle Zahlen: Laut dem Handelsverband Deutschland (HDE) mussten zwischen 2020 und 2025 rund 50.000 Handelsunternehmen schließen. Vor allem kleine, inhabergeführte Betriebe sind stark betroffen. Ein Beispiel aus Berlin ist das ehemalige Leiser-Geschäftshaus an der Tauentzienstraße 19, das zusammen mit dem benachbarten Peek-&-Cloppenburg-Haus zu einem Multi-Use-Gebäude umgebaut werden soll.
Neue Stadtentwicklungsmodelle: Karstadt Celle als Impulsgeber
Auch Celle steht exemplarisch für den Leerstand in zahlreichen deutschen Innenstädten. Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs suchte die niedersächsische Stadt nach neuen Nutzungskonzepten für das ehemalige Karstadt-Gebäude. Interdisziplinäre Teams reichten daraufhin über 90 Entwürfe ein, die neue Nutzungsmöglichkeiten für leerstehende Gebäude vorsehen – von urbaner Landwirtschaft bis zu Kulturzentren.
Im Atrium der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin wurden Anfang Oktober 2025 ausgewählte Entwürfe vorgestellt und diskutiert. Die Veranstaltung wurde selbst zu einem „dritten Ort“ des Austauschs, bei dem Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Architektur über Strategien zur Wiederbelebung der Innenstädte debattierten.
Nachhaltig und ressourcenschonend: Entwürfe setzen auf Umbau statt Neubau
Ein zentraler Fokus der Entwürfe lag auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Bestehende Gebäude sollen recycelt und Materialien wiederverwendet werden. Damit könnte Celle als Beispiel für den behutsamen Umgang mit historischer Substanz in der modernen Stadtplanung dienen.
Anstelle monofunktionaler Großstrukturen wie Karstadt setzen die Konzepte auf Mischnutzung von kleinen Geschäften, Kultur, Gastronomie und Wohnen. So entstehen lebendige Innenstädte, die soziale Begegnung und kulturelle Vielfalt fördern.
Celle stellt Ideen vor: Stadtfarm, Re-Use und neue Begegnungsräume statt Leerstand
Der Entwurf „Vorratskammer (cella)“ schlägt zum Beispiel eine Stadtfarm vor, in der Gemüse im Obergeschoss angebaut und im Erdgeschoss verkauft und verkostet wird. Der Entwurf „Transformation Zelle“ schlägt die Umnutzung als Lebens- und Arbeitsraum für straffällig gewordene Jugendliche vor, auch als Antwort auf die überfüllten Justizvollzugsanstalten in Niedersachsen. Ein weiterer Entwurf konzipierte das ehemalige Kaufhaus als Data-Center für die digitale Infrastruktur.
Der Siegerentwurf „RaumWerkCelle“ der Technischen Hochschule Mittelhessen behielt die Gebäudestruktur bei und kombinierte flexible Nutzungen auf zwei Etagen: eine öffentliche Markthalle im Erdgeschoss mit Handel, Gastronomie und Dienstleistungen sowie Hostel, Wohnungen und Büroräume im Obergeschoss. So sollen Nutzungsspielräume geschaffen werden, ohne neue Leerstände zu provozieren.
Kritik am „Bauturbo“: Politik soll Innenentwicklung fördern
In der Diskussionsrunde wurde deutlich, dass die Politik stärkere Anreize schaffen müsse, um die Innenentwicklung in Städten gezielt zu fördern. Statt weiterhin auf großflächige Neubauten und Expansion in Außenbereiche zu setzen, sollten bestehende Gebäude umgenutzt und aufgewertet werden. Nur so könnten neue Wohn- und Begegnungsräume entstehen, die allen zugänglich sind.
Kritisch wurde diesbezüglich das aktuelle „Bauturbo“-Programm des Bundes bewertet, das vor allem zu sehr auf Neubauprojekte zielt. Städte benötigten dagegen politische und finanzielle Unterstützung, um Bestandsgebäude, wie ein ehemaliges Karstadt-Gebäude in Celle, nachhaltig zu transformieren und soziale Vielfalt architektonisch zu fördern.
Zukunft deutscher Innenstädte: Transformation braucht Kooperation und Gemeinwohlorientierung
Vertreterinnen aus Politik, Wissenschaft und Architektur betonten, dass Stadtentwicklung künftig stärker kooperativ und gemeinwohlorientiert gestaltet werden müsse. Transformation gelinge nur, wenn Bund, Länder, Kommunen, Eigentümer und Bürger gemeinsam agieren.
Oft scheitern Projekte jedoch schon an fehlender Kooperation mit privaten Investoren. Hinzu kommen knappe kommunale Ressourcen, gesetzliche Hürden und eine gewisse Veränderungsmüdigkeit. Förderprogramme und Reformen gelten daher als zentrale Voraussetzung, um Innenstädte als soziale und kulturelle Räume neu zu beleben.
Celle als Experimentierfeld für offene Planungsprozesse
Der Ideenwettbewerb in Celle verzichtete bewusst auf strenge Vorgaben und ermöglichte so eine offene Diskussion über neue Stadtentwicklungskonzepte. Fachleute bezeichneten den Ansatz als gelungenes Experiment, das verdeutlicht, wie kreative Impulse entstehen, wenn Planung bewusst Freiräume zulässt. Die Veranstaltung zeigte zugleich, wie stark klassische Wettbewerbe institutionell geprägt sind. Etwa durch kommunale Vorgaben oder formale Regeln der Architektenkammern.
Der offene Ansatz in Celle öffnete den Diskurs für neue Perspektiven und legte den Grundstein für eine gemeinwohlorientierte, zukunftsfähige Stadtentwicklung. Die Diskussion um die Transformation der Innenstädte zeigt, dass es nicht an Ideen, sondern an Umsetzungskraft mangelt. Politik, Eigentümer und Stadtgesellschaft müssen gemeinsam handeln, um Leerstände zu beleben und Innenstädte wieder zu Orten des Miteinanders zu machen.
Quellen: WGGW.Info, IFH Köln, Difu – Deutsches Institur für Urbanistik
Jetzt PLUS-Kunde werden
Um diesen Artikel lesen zu können, benötigen Sie ein PLUS-Abonnement.


